19/6/15

Die Christliche Orthodoxie und der Islam


Vortrag gehalten in Bonn am 11.06.2015
anlässlich der Feier des Namenstages
des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I.
Prof. Dr. Georges Tamer, Universität Erlangen-Nürnberg


Eminenz, sehr verehrter Metropolit Augoustinos von Deutschland, Exarch von Zentraleuropa
des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel; sehr verehrter Metropolit Isaak,
Metropolit der Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland und Mitteleuropa (Rum-
Orthodox); Eminenzen; Exzellenzen; hochwürdige Väter; sehr verehrte Festgäste,
zuerst möchte ich mich bei Seiner Eminenz Metropolit Augoustinos für seine Einladung, aus
Anlass der Feier des Namenstages Seiner Allheiligkeit des Ökumenischen Patriarchen
Bartholomaios I. zu Ihnen zu sprechen, herzlich bedanken. Mich freut es, in diesem Haus zu
sein, das sich über Jahrzehnte als eine offene Begegnungsstätte für alle Orthodoxen in
Deutschland sowie als Ort ökumenischen Engagements erwiesen hat.
Ich folge der Bitte, etwas zum Thema „Orthodoxie und Islam“ vorzutragen, selbstverständlich
gern, nicht nur aufgrund meiner akademischen Tätigkeit, sondern gleichermaßen aufgrund
meiner Biographie. Im Libanon, einem vom Zusammenleben von Christen und Muslimen mit
allen zusammenhängen Spannungen und Wechselwirkungen geprägten Land, in einer
orthodoxen Familie geboren und von meiner Jugend an in der Griechisch-Orthodoxen Kirche
von Antiochia aktiv, verfüge ich über eine privilegierte Beziehung zum Islam und seinen
vielfältigen Facetten. Im Mittelpunkt meiner Forschungen steht der Koran, den ich schon als
Jugendlicher zum ersten Mal gelesen habe, gleich nachdem ich meine erste Lektüre der Bibel
mit ihren beiden Testamenten abgeschlossen hatte. Selbstverständlich las ich beide Schriften
auf Arabisch, der Sprache, die als Wiege interreligiöser Kommunikation zwischen Anhängern
der monotheistischen Religionen gilt. Denn das Arabische war die erste Sprache überhaupt, in
der die heiligen Schriften der Juden, Christen und Muslime gleichzeitig beheimatet sind - ein
historisches Faktum mit weitreichenden Implikationen für die interreligiösen Beziehungen im
arabischen Sprachraum in der Vergangenheit und der Gegenwart.
Aber zurück zum Jubilar des heutigen Namenstags. Im November 2009 schenkte Patriarch
Bartholomaios I. dem Großmufti des Kaukasus Scheichülislam Allahschükür Paschazade,
Oberhaupt der Muslime im Kaukasus, anlässlich von dessen 60. Geburtstag ein wertvolles
Koranexemplar. Beobachter und Journalisten sahen darin nicht nur ein Zeichen des Respekts
dem Beschenkten gegenüber, sondern viel mehr eine bedeutende Geste der Hochachtung
gegenüber dem Koran: Der Ökumenische Patriarch demonstrierte damit seine Anerkennung
dieses Buches als eines wertvollen Geschenks. Wollte der Patriarch von Konstantinopel damit
etwa auf die moralische Unterstützung, die im Koran den Byzantinern vor knapp 14
Jahrhunderten zuteilwurde, reagieren?
Tatsächlich äußert sich der Koran am Anfang von Sure 30, die den Namen „ar-Rūm“, d.h. die
(Ost)Römer, die Byzantiner, trägt, zugunsten dieser in ihrem langjährigen Kampf gegen die
Perser in den ersten drei Dekaden des siebten Jahrhunderts. In einer für die mekkanische Zeit
der koranischen Verkündigung ungewöhnlichen Stellungnahme sagt der Koran:
„Die Byzantiner sind besiegt worden im nächstgelegenen Land. Doch nach ihrer
Niederlage werden sie siegen in etlichen Jahren. Gott steht die Entscheidung zu –
vorher und nachher. An jenem Tag werden sich die Gläubigen über Gottes Hilfe
freuen. Er hilft dem, dem er helfen will. Denn Er ist der Mächtige, der Barmherzige.
Die Verheißung Gottes! Gott bricht Seine Verheißung nicht. Doch die meisten
Menschen wissen nicht Bescheid.“ (Q 30:2-6)
In arabischer Sprache klingen diese bemerkenswerten Verse wie folgt:
غُلِبَتِ الرُّ ومُ ﴿ ۲﴾ فِي أَدْنَى الْأَرْ ضِ وَھُم مِّن بَعْدِ غَلَبِھِمْ سَیَغْلِبوُنَ ﴿ ۳﴾ فِي بِضْعِ سِنِینَ لِلَّھِ الْأَمْرُ مِن قَبْلُ وَمِن
بَعْدُ وَیَوْمَئِذٍ یَفْرَ حُ الْمُؤْمِنُونَ ﴿ ٤﴾ بِنَصْرِ اللَّھِ یَنصرُُ مَن یَشَاءُ وَھُوَ الْعَزِیزُ الرَّ حِیمُ ﴿ ٥﴾ وَعْدَ اللَّھِ لَا یُخْلِفُ اللَّھ وَعْدَهُ
﴾ وَلَٰكِنَّ أَكْثَرَ النَّاسِ لَا یَعْلَمُونَ ﴿ ٦
Mit der beklagten Niederlage der Byzantiner könnte vermutlich der Verlust Syriens und
Jerusalems, der Arabien nächstliegenden Gebiete nach koranischer Bezeichnung, im Jahr 614
gemeint sein. Für den Koran und die Urgemeinde konnte diese Niederlage nicht als
endgültige gelten, denn sie hätte den endgültigen Sieg der heidnischen Perser über die
gottgläubigen Byzantiner bedeutet – eine religiös-politische Entwicklung, die nicht im Sinne
Muhammads gewesen wäre, der selber gegen das Heidentum auftrat. Der Koran verspricht die
Umkehrung der Verhältnisse, denn die Entscheidung darüber, wer am Ende siegen würde,
liegt allein bei Gott. Angeführt von Kaiser Herakleios gelang es den Byzantinern 629/30, die
Perser zu besiegen und das Kreuz Christi zurückzubekommen.
Mit der politischen, byzanzfreundlichen Aussage wird an der Stelle ein für die koranische
Weltanschauung zentrales Theologoumenon verbunden, demnach Gott die einzige Macht ist,
die freiwillig der Kampfpartei Sieg verleiht, die Gott nah steht. Zwei weitere Gedanken sind
hier bemerkenswert: Zum einen wird der in Aussicht gestellte Sieg der Byzantiner als Gottes
absolut sichere Verheißung bezeichnet, für die sich kein anderer als Gott selbst verbürgt. Zum
anderen stellt der Koran antizipierend fest, dass die Gläubigen dem künftigen Sieg der
Byzantiner über die Perser mit Freude begegnen werden. Mit den Gläubigen in jener frühen
Zeit der koranischen Verkündung in Mekka, bevor Muhammad in die Stadt Yathrib
übersiedelte, könnten nicht nur die Anhänger Muhammads gemeint sein. Das Konzept der
Gläubigen (Arab.: al-muʾminūn) war mit großer Wahrscheinlichkeit damals noch offen für
Gottgläubige verschiedener Glaubensrichtungen – also auch für Juden und Christen -, die von
Muhammad nachdrücklich dazu aufgefordert wurden, seiner neuen Botschaft Folge zu leisten.
Die bereits vorgetragene Passage enthält die einzige politische Aussage im Koran vor der
Auswanderung Muhammads aus Mekka. Danach betritt er die Weltbühne nicht nur als
Verkünder göttlicher Offenbarungen, sondern auch als erfolgreicher Staatsmann und Feldherr.
Der Name seiner neuen Wirkungsstätte wurde von Yathrib zu al-Madīna, „der Stadt“ geändert.
Der neue Ortsname „al-Madīna“ kommt im Koran viermal vor (Q 9:101, 120; 33:60; 63:8).
Handelt es sich bei dieser Namensänderung um eine Nachahmung des griechischen Namen „i
Polis“, „die Stadt“, einer verkürzten Form von „Konstantinoupolis“? Darüber kann ich nur
spekulieren. Fest steht jedenfalls, dass die Hauptstadt des oströmischen Reiches, die Stadt
Konstantins, bald die ernsthafte Bedrohung der jüngeren „Stadt des Propheten“ zu spüren
haben sollte. Dem muslimischen Reich gegenüber verkörperte Byzanz von Anfang an Vorbild
und Rivalität gleichermaßen. In der um die Mitte des achten Jahrhunderts, d.h. mindestens
120 Jahre nach seinem Tod, verfassten Biographie Muhammads wird berichtet, dass ein Licht
aus seiner Mutter hervorging, das ihr die römischen Paläste in der damals herrlichen Stadt
Buṣrā südlich von Damaskus beleuchtete, als sie mit Muhammad schwanger wurde. Die
retrospektiv erzählte Vision spiegelt selbstverständlich die politische Realität in der Zeit ihrer
schriftlichen Fixierung wider. Um jene Zeit waren schon große Teile des Byzantinischen
Reiches in die Hände der Muslime gefallen, die Hauptstadt des Umayyaden-Staates wurde
Damaskus, die bis vor kurzem Hauptstadt der oströmischen Provinz Syrien war. Die
byzantinischen Verwaltungsstrukturen blieben jahrzehntelang aufrechterhalten und die in der
ehemals oströmischen Provinz Syrien lebenden orthodoxen Christen dienten ihren neuen
Herren. Obwohl die Abbasiden ihr Machtzentrum nach Bagdad nahe dem Land der Perser
verlagerten, blieb Byzanz ihr Vorbild wie beispielsweise bei der Entwicklung des Systems des
Kalifats. Aus Byzanz ließen sich die Muslime griechisches Wissen und griechische
Philosophie überbringen. Durch eine in ihrem Umfang bislang unvergleichliche, besonders
von Christen getragene Übersetzungsbewegung aus dem Griechischen ins Arabische
empfingen nach Wissen strebende Muslime Schätze der griechischen Zivilisation in der
Antike und der Spätantike, entwickelten sie weiter und gaben später ihre Werke dem
lateinischen Europa der Scholastik, Renaissance und Aufklärung. Auch Byzanz profitierte
später von den von Muslimen entwickelten Wissenschaften wie der Mathematik und
Astronomie.
Theologische Lehren im Koran werden vorzüglich im Zusammenhang mit der Ablehnung von
christlich-orthodoxen Lehren entwickelt. So wird z.B. die koranische Lehre von der absoluten
Einheit Gottes im gleichen Atemzug mit der Zurückweisung der Trinität prägnant artikuliert,
wenn in der kurzen Sure 112, die den Namen des reinen Glaubensbekenntnisses „al-Ikhlāṣ“
trägt, bekräftigt wird, dass Gott der Eine ist, der nicht zeugte und nicht gezeugt wurde, und
dass niemand Ihm gleicht. Dass darin deutlich die Trinität und die Wesensgleichheit des
Sohnes mit dem Vater (ὁμοούσιος) abgewiesen werden, liegt auf der Hand. Ebenfalls im
Einklang mit christlichen Häresien verneint der Koran, dass ʿĪsā, Jesus, der Sohn Mariae,
Sohn Gottes ist, dem im Christentum Anbetung gebührt. Von seiner Kreuzigung will der
Koran nichts wissen. Gekreuzigt wurde dort ein anderer, der in einem perfekten
Täuschungsakt von den Juden für Jesus gehalten wurde. Mit dem Opfertod Christi
verschwindet aus dem Koran ebenfalls seine Auferstehung. Eine Heilsgeschichte ist dort
ohnehin nicht nötig, weil der Sündenfall Adams und seiner Frau im Islam nicht dieselben
theologischen Konsequenzen wie im orthodoxen Christentum hat. Im Koran besteht die
ursprüngliche Sünde des ersten Menschen darin, dass er das Gebot Gottes aufgrund
satanischer Versuchung vergessen hat. Sünde ist also mit Vergesslichkeit gleichzusetzen. Gott
nahm jedoch die Kommunikation mit Adam gleich nach seiner Reue wieder auf, schickte
wiederholt mahnende Propheten, die die Menschen daran erinnerten, sich Gottes Willen zu
beugen. Der Koran versteht sich im Ganzen als Mahnung, als Erinnerung ( νάμνησις) daran,
den menschlichen Urzustand der Gottergebenheit wiederherzustellen. Diesem
Selbstverständnis entspricht die Bedeutung des Islams im Sinne von „Ergebung, Hingabe“.
Obwohl eine göttliche Natur Jesu vom Koran völlig abgelehnt wird, wird er an einer Stelle
(4:171) als Wort Gottes und Geist von Ihm bezeichnet. Die Jungfräulichkeit seiner Mutter
wird bekräftigt; seine Geburt findet auf eine wundersame Weise unter einer Palme statt. Vieles
von diesen Erzählungen ist ebenfalls in der christlich-apokryphen Literatur vorhanden.
Gemäß islamischer Lehre wird Jesus am Ende der Weltzeit wiederkommen, den Antichristen
besiegen und damit die Ankunft des Jüngsten Gerichts einleiten. Als ein Prophet genießt er im
Islam eine Sonderstellung, auch durch seine Heilungstätigkeit hebt er sich im Koran von allen
anderen Propheten ab.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften wird nicht allein von der
Theologie bestimmt. Eine stärkere Rolle dürften dabei politische, kulturelle, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Faktoren spielen. All dies prägt die Vergangenheit und die Gegenwart
der Beziehungen zwischen orthodoxen und muslimischen Gesellschaften. Da sich der Islam in
seiner Frühzeit in den Gebieten der ersten vier orthodoxen Patriarchate Konstantinopel,
Alexandria, Antiochia und Jerusalem verbreitete, entwickelten sich unterschiedliche Formen
des Zusammenlebens, das Epochen des Friedens, aber auch nicht selten Spannungen,
Unterdrückung und kriegerische Konflikte kennt. Zusammen mit den Juden werden die
Christen im Koran als „Buchbesitzer“ (ahl al-kitāb) respektiert. Sie wurden im Frühislam
nicht zwangskonvertiert, mussten jedoch die Kopfsteuer zahlen und auf viele Privilegien im
Staat verzichten. Die Mehrheit der Bevölkerung im Lande des Islams blieb bis ins 10.
Jahrhundert hinein christlich. Im späteren Verlaufe der Geschichte änderten sich jedoch die
demographischen Verhältnisse. Vor allem im Nahen Osten und in der heutigen Türkei
reduzierte sich allmählich die Zahl der Christen. Die stärkere Religionsgemeinschaft neigt in
den meisten Fällen leider dazu, die schwäre Gemeinschaft zu unterdrücken.
Neben den altorientalischen Kirchen sind die orthodoxen Kirchen, die bereits genannten
ältesten und die jüngeren in Ost- und Südosteuropa, diejenigen christlichen Kirchen, die am
längsten und am intensivsten mit dem Islam seit vielen Jahrhunderten in wechselseitigen
Beziehungen stehen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Erfahrung der
orthodoxen Kirche von Antiochia – das sage ich nicht, weil ich dieser Kirche angehöre.
„Rum-Orthodox“ genannt, ist diese Kirche ihrem eigenen Selbstverständnis nach die
arabische byzantinisch-orthodoxe Kirche. So wird sie auch von den arabischen Muslimen
wahrgenommen. Einer ihrer großen Heiligen, Johannes von Damaskus (gest. vor 754), der
infolge seines Vaters ein hohes Amt am Hofe der Umayyaden bekleidete, bevor er sich in das
Kloster des Heiligen Sabas bei Jerusalem zurückzog und dort bedeutende theologische Werke
und Hymnen schrieb, setzte sich bereits früh mit islamisch-theologischen Gedanken
auseinander. Schrieb er noch Griechisch, änderte sich dies bei seinem bedeutenden
Nachfolger Theodor Abū Qurra (gest. um 820), dem vermutlich ersten orthodoxen Theologen
in arabischer Sprache. Neuere Studien zu Abū Qurras Theologie überzeugen, wenn sie in
seinem Werk, verglichen mit den Werken früherer griechischer Kirchenväter, Besonderheiten
in der Formulierung von orthodoxen Glaubensinhalten auf Arabisch ans Licht bringen. Solche
spezifischen Merkmale sind durch den arabischen, islamisch geprägten Kontext bedingt. Die
rum-orthodoxe Kirche von Antiochia hat etwa seit dem 9. Jahrhundert damit begonnen, neben
Griechisch Arabisch in der Liturgie zu verwenden. Dies ist als Zeichen kreativer
Wahrnehmung einer veränderten historischen Situation zu deuten, so wie heute, wenn
orthodoxe Kirchen in Deutschland unter pastoraler Berücksichtigung der neuen Generationen
verstärkt die deutsche Sprache in der Liturgie verwenden.
Die langen, vielschichtigen und facettenreichen Beziehungen der orthodoxen Kirchen in ihren
Heimatländern mit muslimischen Gemeinschaften unterschiedlicher Prägung ist ein
Erfahrungsschatz, den man in Deutschland gut gebrauchen kann, wenn es um die
Entwicklung eines in Deutschland heimisch gewordenen Islams geht. Eine große Aufgabe, die
die deutsche Gesellschaft insgesamt mit den muslimischen Verbänden und Akteuren als Teil
davon noch zu bewältigen hat. Die orthodoxen Kirchen können sicherlich einen wichtigen
Beitrag dazu leisten. Denn ihre Erfahrung mit dem Islam ist tiefer und weitreichender als die
der anderen Kirchen. Während die erste Moschee in Rom erst 1995 eröffnet wurde, befand
sich in Konstantinopel bereits seit dem achten Jahrhundert eine Moschee. Und während alle
Christen den Gottesdienst mit der Formel „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes“ eröffnen, fügen die Rum-Orthodoxen Antiochener einzigartig „des einen
Gottes“ hinzu, um die Einheit des trinitarischen Gottes zu bekräftigen. Sie drücken damit eine
synthetisierende Realität aus, in der der Islam zum festen Bestandteil geworden ist.

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