„Doch als sie hinblickten,
sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war nämlich sehr groß.“ (Mk 16,4)
Liebe orthodoxe Christen in Deutschland!
Heute ist Ostern. Wir alle haben uns festlich gekleidet, um
zur Kirche zu kommen und die Auferstehung unseres Herrn zu feiern. Die Sehnsucht
nach dem geistlichen Frühling erfüllt unsere Herzen. Unsere Seele dürstet
wortwörtlich danach und sehnt sich, für kurze Zeit der Tragik unseres Alltags zu
entkommen. Apokalyptische Bilder kommen durch die modernen Nachrichtenmedien in
unsere Häuser. Eine Katastrophe biblischen Ausmaßes hat das Erdbeben der Stärke
9,0 auf der Richter-Skala über Japan gebracht. Noch sind die Folgen der Havarie
im Atomkraftwerk von Fukushima nicht absehbar. In Libyen und in vielen anderen
Gegenden unseres geplagten Planeten herrscht Krieg. Die Wirtschaftskrise ist
weltweit und hat besonders auch Griechenland, die Heimat vieler orthodoxer
Christen in Deutschland, erfasst. Ungerechtigkeit und Habsucht herrschen
allenthalben. Das Gespenst der Armut und wechselseitiger Feindseligkeit,
Aggression und Vernichtung ist noch immer gegenwärtig.
Lasst uns also eine Pause machen – um zu feiern … ? Ist das
der Sinn der Einladung, die die Kirche an uns richtet, wenn sie ausruft: „Kommt,
empfanget Licht!“ Und wie können wir nur feiern, wenn all das rings um uns herum
geschieht? – werden empfindsame Gemüter fragen.
Doch die Kirche spricht ihre Einladung nicht ohne
Vorankündigung aus. Der heutige Tag steht am Ende einer geistlichen Reise, die
sich noch vor Beginn der Fastenzeit ankündigte und die mit der Vesper der
Vergebung an der Schwelle der großen Fastenzeit, der heiligen Vierzig Tage,
begann. Auch wir sind eingetreten in das Abenteuer dieser Reise. Wir haben uns
zu Beginn mit Adam identifiziert, wie er vor dem verlorenen Paradies saß und
weinte. Die Wanderung gipfelte in unserem Aufstieg nach Jerusalem und unserer
Teilnahme an den allreinen Leiden des Herrn, am Skandal seiner Kreuzigung, am
Mysterium seiner Grablegung und seines Abstiegs in den Hades. Wir haben die
äußerste Erniedrigung erlebt, die Entwürdigung, die Ablehnung, den Verrat, die
Ungerechtigkeit, die der sündelose Jesus, der Sohn der Jungfrau, erduldet hat.
Bei dieser Reise haben wir den Alltag nicht ausgeklammert,
uns nicht aus der Welt zurückgezogen, die Augen unseres Herzens vor der
Verzweiflung der Menschen, nicht verschlossen, sei es der Verzweiflung der
Menschen in Japan, in Libyen, in Griechenland oder manchmal auch in diesem Land,
in Deutschland. Ihre Hilferufe, ihre Trauer, ihre Wut wurden ein Teil unseres
Gebetes; wir haben alles geteilt und zum Kreuz getragen. Und durch das Mysterium
des Kreuzes haben wir verstanden, dass jeder Mensch in seinem eigenen Gethsemane
mit Gott ringt. Aber was ist das Ziel seines Ringens? Dass er sich frei und
mutig entscheidet, sein Kreuz zu tragen. Und dass er, wenn er es tut, es nicht
unter Wehklagen, sondern in Liebe tut.
Diese Liebe ist es, die uns zur Auferstehung führt. Der
Bericht von der Auferstehung nach dem Evangelisten Markus, der heute in der
ganzen Welt zu hören ist, erwähnt, dass die das Myron tragenden Frauen, obwohl
sie in dem Stein, der den Eingang zum Grab verschloss, einem wirklichen
Hindernis gegenüberstanden, schließlich gerade diesen Stein vom Grab weggewälzt
fanden. „Wer den Stein in sich selbst spaltet und darin das Leben der Liebe und
der Aufopferung findet, fürchtet den Tod nicht“ sagt uns ein zeitgenössischer
christlicher Philosoph.
Kreuz und Auferstehung Christi lassen nicht mehr zu, dass wir
einfach um des Lebens willen leben. Sie offenbaren einen Sinn auch da, wo wir
selbst keinen Sinn sehen, und lassen es nicht zu, dass die irdische Schwere uns
überwältigt. Die Teilnahme am göttlichen Licht der Auferstehung kann in uns ein
Feuer der Kreativität, der Entschlossenheit, des Opfermuts entzünden. Der Glaube
gebiert uns neu, erhält uns wach und erinnert uns beständig an unsere
Verantwortung. Und unsere Verantwortung ist, dass die Welt unsere in Liebe
vollzogene freiwillige Selbstdarbringung aufscheinen lässt, ebenso wie den
Glauben, dass die Dinge auch noch eine andere Dimension haben, dass der Mensch
eine leuchtende Seite hat, dass jeder Mensch das Bild Gottes in sich birgt.
Christus ist auferstanden,
liebe Brüder und Schwestern! Darum lohnt es sich zu leben und
zu glauben, dass das Licht Christi auch noch die dunkelsten Winkel der Erde,
auch die finstersten Gegebenheiten unserer Gesellschaft, ja auch die dunkelsten
Orte unserer Seele erleuchten kann. „Die Auferstehung erfordert aber Mut“, sagt
uns wiederum unser Philosoph und fügt hinzu: „In der Beherztheit lässt sich
Gottes Gnade finden“.
Ich lade also, meine geliebten Brüder und Schwestern, einen
jeden und eine jede von Euch ein, diese Gabe Gottes an uns mit Mut zu empfangen;
„die Auferstehung Christi als ein Ereignis, das geschehen ist und das noch immer
mit uns geschieht; dieses Geschenk, das unsere Einstellung gegenüber jeder
Befindlichkeit dieser Welt, sogar gegenüber dem Tod, grundlegend verändert“.
Bonn, Ostern
2011
In väterlicher Liebe
In väterlicher Liebe
† Metropolit Augoustinos von
Deutschland
Exarch von Zentraleuropa
Exarch von Zentraleuropa
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